Der MDR berichtet über Genderunterschiede bei psychischen Störungen: https://www.mdr.de/ratgeber/gesundheit/depression-symptome-therapie-diagnose-maenner-102.html
Nicht nur die Prävalenzrate psychischer Störungen unterscheidet sich: Frauen sind häufiger von Depressionen und Angststörungen betroffen als Männer. Männer sind dagegen mehr von Substanstörungen betroffen als Frauen (z.B. schädlicher Gebrauch und Abhängigkeitssyndrom bezüglich Alkohol).
Die Psychiaterin Prof. Katarina Stengler, Direktorin des Zentrums für Seelische Gesundheit am Helios Parkklinikum Leipzig, meint im MDR darüber hinaus: Männer hätten andere Symptome einer Depression als Frauen. Depressionssymptome wie sie in der ICD-10 und ICD-11 der WHO oder dem DSM 5 der APA genannt sind wie Niedergeschlagenheit seien ihrer Meinung nach solche, "die vorwiegend auf Frauen bezogen sind". Dagegen könne sich eine Depression bei Männern ohne diese Symptome zeigen und stattdessen durch andere Symptome: Gereiztheit, Aggressivität und Substanzkonsum.
Ich finde das interessant: Die Bemühungen in den letzten Jahrzehnten der WHO und der APA lagen ausdrücklich darin, einheitliche Kriterien zu definieren, die das Konstrukt einer psychischen Störung (zum Beispiel einer Depression) ausmachen. Das DSM hat den Anspruch, die neusten verfügbaren evidenzbasierten Informationen zu berücksichtigen. Es differenziert dabei - dort wo es Evidenz gibt - nach Geschlecht, Alter und Kultur bei psychischen Störungen. Das DSM besagt, dass anstelle der niedergeschlagen Stimmung auch "irritable mood" bei einer Depression vorkommen kann - aber nicht bei Männern, sondern bei Kindern und Jugendlichen. Das DSM führt in direktem Widerspruch zu den Aussagen von Katarina Stengler aus: "Despite consistent differences between gender in prevalence rates for depressive disorders, there appear to be no clear differences by gender in phenomenology".
Die Aussagen von Frau Stengler finde ich nicht überraschend. Ich persönlich habe schon sehr viele Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen erlebt, die ihre eigenen Kriterien über psychische Störungen genutzt haben. Das geht aus Arztbriefen und Epirksen hervor, die mir Patient*innen über ihre Vorbehandlungen gegeben haben: Zum Beispiel schrieb eine Psychiatrische Institutsambulanz (PIA), dass ein Kind genau die Symptome einer Sozialverhaltensstörung zeige "an der Oberfläche" - da diese aber verursacht seien - so die Vermutung der Kollegin - durch Konflikte und Traumata in der Mutter-Kind-Beziehung, müsse man die "eigentliche" Ursache als Diagnose angeben. Das sei eine emotionale Störung.
Frau Stengler sagt, die sozialen Umstände und soziokulturelle Faktoren wurden eine weitere Rolle spielen: Über Angst zu sprechen sei für Frauen sozial akzeptierter als für Männer.
Leider benutzt die Chefärztin im Interview den Begriff "Selbstmord" statt Suizid und "Selbstmordrate" - dabei sollte es seit ein paar Jahrzehnten eigentlich zum Standard gehören, auf die Begrifflichkeiten zu achten. Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung so verzweifelt und hoffnungslos sind, dass sie Suizid begehen, begehen keinen "Mord" an sich selbst.
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