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Psychotherapie-Historie: Der Eklat beim 49. ZEIT-Forum der Wissenschaft 2013

Am 18. März 2013 fand das 49. ZEIT-Forum der Wissenschaft in Berlin statt. Die Teilnehmer*innen waren Gesundheitsexperte der SPD-Bundestagsfraktion, Prof. Dr. Karl Lauterbach MdB, Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen von der Universität Dresden (Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie), Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin, und Michael Mary, Autor des Buches „Ab auf die Couch! Wie Psychotherapeuten immer neue Krankheiten erfinden und immer weniger Hilfe leisten“.


Hans-Ulrich Wittchen wurde heftig kritisiert durch die Berufsverbände der Psychotherapeut*innen (DGVT, DPtV). Denn Wittchen sagte auf dem ZEIT-Forum, er gehe davon aus, dass in Deutschland


„50 Prozent der Therapeuten das DSM noch nie in der Hand hatten"

Hier ist der Brief von Hans-Ulrich Wittchen, den er nach der Veranstaltung an die DGVT-Geschäftsführerin schrieb, nachdem diese ihn dazu aufgefordert hatte, Stellung zu beziehen:


Antwortschreiben vom 24. April von Prof. Dr. phil. habil. Hans-Ulrich Wittchen,

Technische Universität Dresden, Institut für Klinische Psychologie und

Psychotherapie


Liebe Frau Deubert,

vielen Dank für Ihren Brief vom 08.04.2013, der mich gerade nach der Rückkehr von einer

Dienstreise erreicht. Gerne nehme ich ausführlicher Stellung zu dieser unsäglich

schrecklichen Veranstaltung und der dann folgenden Verzerrung und Verstümmelung von

einzelnen Aussagen, die durch den Psychotherapeutenverband (DPtV)in Umlauf gebracht

wurden. Auf diese „Aktion“ habe ich reagiert und den Verband und Herrn Dr. Best persönlich

um Richtigstellung gebeten – bislang ohne Reaktion.


Allgemein:

Um es vorweg zu sagen, ich habe mich NICHT abfällig über die Psychotherapeuten und ihre

Qualifikation als solche geäußert, sondern über die Teilgruppe von Psychotherapeuten, die

„vorwissenschaftlich impressionistisch“ diagnostizieren und intervenieren, ohne minimale

Standards der Evidenzbasierung und wissenschaftlichen Fundierung zu kennen oder zur

Kenntnis zu nehmen.


Nun zum Anlass:

Sie beziehen sich auf eine chaotische Podiumsdiskussion der „Zeit“ in Berlin. Das Zeitforum

hatte – entgegen der mir überlieferten Vorinformation, in der ein Vertreter der

Psychotherapeuten angekündigt wurde - einen sich als Psychotherapeuten bezeichnenden

Laien eingeladen, den Buchautor Herrn Michael Mary, der als Coach und Paarberater

arbeitet. Dies führte durch die promotionslastige Moderation meines Erachtens zu der

entsetzlichen Konstellation, dass er mit seiner idiosynkratischen vorwissenschaftlichen

Sichtweise von Psychotherapie als DER Vertreter der Psychotherapeuten wahrgenommen

wurde, während mir selbst als wirklich praktisch tätiger und forschender „Psychotherapeut“

die interessante Rolle als „korrupter Agent der amerikanischen Pharma-Industrie“ (ironisches

Zitat eines Teilnehmers) der mit DSM-5 die gesunde Welt pathologisiert, zugewiesen wurde.


1. Herr Mary begann auf Aufforderung der Moderation die Runde mit hanebüchenen

statements (z. B. dass DSM-5 Störungen erfinde, dass psychische Störungen gar

nicht bestehen, sondern dass Gesunde pathologisiert werden etc). Zudem vertrat er

die Meinung, dass Psychotherapie nicht „Krankenbehandlung“ sei, sondern letztlich

eine Form der sensiblen Begleitung durch Krisen des normalen Lebens“!


2. Gegen diese Positionen habe ich Stellung bezogen und zwar in der fehlgeleiteten

Annahme, dass er Psychotherapeut sei; dass er es nicht ist, hat er erst nach der

Veranstaltung offen gelegt:


a. Ich habe zusammen mit den anderen Podiumsteilnehmern versucht zu

verdeutlichen, dass diese Position vor-wissenschaftlich und so nicht haltbar sei.

Er verkenne, dass Psychotherapie


i. eine äußerst wirksame etablierte wissenschaftliche Behandlungsform bei

umschriebenen Störungsbildern sei,


ii. dass nur auf dieser Grundlage die Professionalisierung im Rahmen des

Psychotherapeutengesetzes in Deutschland erfolgte und


iii. dass die Feststellung einer Diagnose nach etablierten Systemen EINE

zwingende Vorraussetzung sei, zu Lasten der Solidargemeinschaft eine

solche Leistung abzurechnen.


iv. Zudem seien die expliziten DSM- Kriterien für psychische Störungen und nicht

unsubstantiierte ICD Verschlüsselungsnummern für Diagnosen Grundlage

aller wissenschaftlichen Studien, die somit das Bindeglied zwischen der Forschungserkenntnis und ihrer qualitätsgesicherten Anwendung in der

Versorgung darstellen.


v. Ich habe ferner deutlich gemacht, dass es bedauerlicherweise in Deutschland

mit seinem weltweit einzigartigen psychotherapeutischen Versorgungssystem

offensichtlich immer noch einige Psychotherapeuten gibt, die solche

vorwissenschaftlichen Einstellungen vertreten und damit dem Berufsstand der

Psychologischen Psychotherapeuten Schaden zufügen.


3. Daran hat sich zunächst eine Diskussion über DSM-5 angeschlossen, bei der sich

herausstellte, dass Herr Mary das DSM noch nie in der Hand hatte, auch die Kriterien

gar nicht kennt. Darin hat sich meine spitze Bemerkung angeknüpft, dass „leider viele

DSM kritisieren, ohne jemals das Buch in der Hand gehabt zu haben, geschweige

denn regelrecht zu verwenden“. Hierzu habe ich unsere empirischen Befunde

erwähnt, dass die Mehrzahl der Psychiater wie auch der Psychotherapeuten dieses

Buch nicht haben, die kritisierten Kriterien zumeist gar nicht im Detail kennen,

geschweige denn in der Praxis regelrecht verfahren.


4. Ferner habe ich als Mitautor der englischen und Mitherausgeber der deutschen

Versionen von DSM-III-R bis DSM-5 darauf hingewiesen, dass diese Manuale die

einzige, issenschaftlich und international konsensuale Grundlage für (a) die

Definition psychischer Störungen in entwickelten Gesundheitssystemen, (b) die

Ableitung diagnostischer verfahren und (c) die Qualitätssicherung des diagnostischen

Prozesses ist. Weder werden Störungen in DSM „erfunden“, noch “ausgeweitet“,

schon gar nicht zu Gunsten der Pharmaindustrie. Die ICD hat keine expliziten

Kriterien, keine Relevanz für die Forschung, sondern ist lediglich ein Konsens über

alle in der Welt vorkommenden Anlässe diagnostischer und nicht-diagnostischer Art,

die für Gesundheitsdienste und Statistiken relevant ist. Damit sind die Vorwürfe

gegen DSM fehlgeleitet, sie müssten bei der ICD Philosophie und ihrem

grenzenlosen Interpretationsspielraum ansetzen. Kurzum – was psychische

Störungen sind, wird in DSM definiert und dann nach ICD verschlüsselt.


5. In diesem Kontext kam es zur Frage des Moderators, was sich ändern muss. Hierzu

habe ich ausgeführt, dass in unserem System nach wie vor unklar ist, „wann, wie und

wo sich Patienten mit psychischen Störungen hinwenden sollen“.


a. Hier habe ich dargelegt, – übrigens wie mir die Berichterstattung zeigt, gut von

der Mehrzahl verstanden – dass die Interventionsforschung in Psychiatrie und

Psychotherapie diagnostische Standards hat, dass diese sich seit 1980 an DSM

orientieren und dass diese Verfahrensweise die essentielle Grundlage für die

unglaubliche Weiterentwicklung unseres Gebiet darstellt. Zugleich haben wir es

versäumt, patentien- und bedarfsgerechte Regeln zu kommunizieren, wann und

wo sich betroffene Patienten mit ihren heterogenen Störungsmustern primär

hinwenden sollen (Hausarzt, Psychiater, Psychotherapeut). Ich habe ferner darauf

hingewiesen, dass nicht jeder Psychotherapeut für jede Störung gleichermaßen

kompetent sei, bzw. ausgebildet sei. So dass ich zusammenfassend „klarere

Strukturen“ forderte.


b. Ich habe dann auch noch einmal vehement betont, dass ich ungeachtet der

Relevanz allgemeiner Wirkfaktoren einer vertrauensvollen therapeutischen

Beziehung, bisher keine Evidenz für eine allgemeine, d. h. „diagnostisch

unspezifische“ Psychotherapie jeglicher Art sehe, die der Effektivität diagnostisch

fokussierter state of the art Psychotherapie nahe kommen. Ich hatte keine

Einwände, dass sich Menschen mit Problemen durchaus von Psychotherapeuten

helfen lassen; nur sei dies meines Erachtens, wenn keine psychische Störung

vorliegt, nicht auch zwangsläufig und automatisch eine Psychotherapie.


c. Mein Votum war, wie Sie es in Ihrem Brief zitieren, dass wir mehr

Psychotherapeuten brauchen, die diese evidenzbasierten spezifischen Techniken

beherrschen und anwenden. Dass es aber für den Bestand der kassenärztlich

abgesicherten Psychotherapieversorgung gefährlich sei – wie Herr Mary –einen

mehr sogenannten Psychotherapeuten zu propagieren, die diese essentiellen Grundlagen ablehnen. Zu keinem Zeitpunkt habe ich mich abfällig zur

Weiterbildung oder gar zur Ausbildung geäußert, das ist möglicherweise auf eine

Äußerung von „Lauterbach“ zurück zu führen, der m. E. nicht ganz unrecht hat,

wenn er feststellt, dass viele Ärzte und Psychotherapeuten „nicht voll im Saft

stehen“.

6. Sie fragen mich nun danach, was ich mit „klareren Strukturen“ meine: Dazu sollten

Sie meine vielfach vorgetragenen und publizierten Positionen kennen: Ich fordere

immer und stetig (siehe hierzu mein Lehrbuch), dass:


a. Psychotherapie ausschließlich als eine grundlagen- und anwendungs-bezogene

wissenschaftliche Disziplin auf der Grundlage der Klinischen Psychologie und

ihren human- und naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen definiert werden

sollte und nur so professionalisiert überlebensfähig ist.


b. Psychologie und die Klinische Psychologie verfügt m. E. als einziger Berufsstand

über die prinzipiell umfassende Fähigkeit und das Potential, umfassend und

bevölkerungsbezogen Verantwortung für die „psychische Gesundheit und den

Großteil der psychischen Störungen“ zu übernehmen. Mit dieser Aufgabe

erscheint mir langfristig die Psychiatrie quantitativ und qualitativ überfordert zu

sein.


c. Psychotherapie sollte – nach dem aktuellen Stand der Forschung - primär als eine

verhaltenstherapeutische Orientierung (CBT und ihre Variationen unter welch

einer Bezeichnung auch immer) definiert und ausgebaut werden, um langfristig

als Grundlage für die Gesundheitsversorgung herangezogen zu werden.


d. Nur dann kann gesichert werden, dass angesichts beschränkter Ressourcen,

mehr Betroffene in schnellerer Zeit (als bei anderen Verfahrengruppen) zeit- und

kosteneffizient Hilfe erfahren.


e. Klarere Struktur bedeutet für mich damit durchaus auch, dass wir dies deutlich

nach Außen tragen: an die Patienten, an die Öffentlichkeit und die politischen

Entscheidungsträger, die entsprechend Bedarfs-, Zulassungs- und

Qualtitätssicherungs-Kriterien einführen sollten und Zugangsbarrieren beseitigen.


f. Fachintern müssen wir gegenüber den betroffenen Patienten und der

Bevölkerung deutlich machen, wann welcher Psychotherapeut für welche

Störungen und welche Störungskonstellationen am erfolgversprechendsten ist,

denn nicht jede Störungsform kann von jedem Therapeuten auch state of the art

behandelt werden.


g. Dies setzt m. E. voraus, dass alle Therapeuten auch das Bindeglied zwischen

Forschung und Praxis kennen – nämlich die Konstrukte der international

verbindlichen Diagnosen, wie sie ausschließlich in DSM beschrieben werden.


h. Obwohl dies nicht in Berlin zur Sprache kam, impliziert dies meines Erachtens

auch entsprechende Ausbildungs- und Weiterbildungsregeln. Hier habe ich

vielfach kritisiert, dass weder die derzeitige Ausbildung zum Psychotherapeuten,

geschweige denn Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeuten entsprechend

geregelt ist, noch deren berufspraktische Verankerung über die Kammern.

Deswegen wird - meines Erachtens - das Potential der Psychotherapie

keineswegs public health bezogen ausgeschöpft und die Versorgung bleibt

defizient (siehe hierzu Wittchen et al 2011 in EJN).

Ich betrachte vor dem Hintergrund dieser schrecklichen Podiums-Diskusssion mit großer

Sorge, wie sich vielfach der Begriff „Psychotherapie“ in Deutschland immer weiter und ohne

„Kontrollmechanismen“ von Ihrer Mutterwissenschaft der Psychologie sowie der

wissenschaftlichen Klinischen Psychologie und Psychotherapie“ wegentwickelt. Obwohl ich

der Meinung bin, dass unser „deutsches Psychotherapiesystem“ grundsätzlich eine

Erfolgsstory ist, sehe ich leider auch einige Befürchtungen bestätigt, die ich 20 Jahre (1980-

2000) zu dieser Konstruktion geäußert habe (z. B. die „nicht mehr kontrollierbare

Entwicklung einer Psychotherapie Pragmatik ohne fachliche Anbindung an eine akademische Mutterdisziplin). Ich teile deshalb Ihre Auffassung, das Psychotherapeutengesetz als „Erfolgsmodell“ zu

sehen, nur begrenzt. Es ist der entscheidende Durchbruch gewesen in Richtung auf eine

essentiell bessere Ausgangsposition für eine Verbesserung der Versorgung von Menschen

mit psychischen Störungen. Allerdings hat das Modell in vielen Teilen gravierenden

Verbesserungsbedarf und bedarf der konsequenten Anpassung (ich verzichte hier auf die

Ihnen sicher bekannte Aufzählung von mangelnden Standards in der Ausbildung bis zur

Sicherung der bedarfsgerechten und qualitätsgesicherten Ausübung).


Gerne können wir dies in einer persönlichen Aussprache vertiefen – vielleicht sogar

anlässlich Ihres Berlin Kongresses?


Mit freundlichen Grüßen,


Ihr Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen

(nach Diktat verreist)


 

Wittchen galt für Jahrzehnte als renommierter Wissenschaftler, bis zur Aufdeckung von Manipulationsvorsürfen bei der sogenannte PPP-Studie des G-BA:


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