Heute Abend berichtet Prof. Dr. Michael Linden für die Psychotherapeutenkammer Berlin darüber, welche Patient*innengruppen Psychotherapeut*innen in der Regel behandeln und über sozialmedizinische Aspekte. Sozialmedizinische Fragestellungen sind zum Beispiel, ob bei Patient*innen mit einer psychischen Störung auch einen "Grad der Behinderung" haben. "Ein GdB von 60 ist nicht selten bei vielen Patient*innen, die in Psychotherapie kommen", sagt Michael Linden.
Michael Linden leitet die Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Berliner Charité und ist Dozent am Institut für Verhaltenstherapie Berlin (IVB).
Studie
Es wurden 322 Behandlungsfälle (58,4% VT, 41,6% tfP) von 131 Psychotherapeut*innen untersucht.
Einige Ergebnisse
Knapp zwei Drittel aller Patient*innen haben Abitur.
Therapiedauer: Michael Linden erklärt, die Regelpsychotherapiedauer in Großbritannien betrage 6 Stunden. "Da gibt es völlig andere Wahrnehmungen der Welt. Nirgendwo auf der Welt gibt es längere Behandlungen als in Deutschland".
Michael Linden berichtet, es habe ihn selbst überrascht, wie lang die Erkrankungsdauer von Patient*innen oft schon ist, die zu Psychotherapeut*innen kommen. 99% der Patient*innen leiden unter jahrelangen, 55% unter jahrzehntelangen Erkrankungsverläufen:
Erkrankungsdauer in Jahren (n=319)
Die Ergebnisse zeigen, dass vorrangig Erkrankungen aus dem affektiven Störungskreis mit aktuell mittelgradiger Ausprägung, jedoch mit nahezu ausschließlich chronischen Verläufen und erheblichen Teilhabeeinschränkungen behandelt werden, so dass unter längsschnittlicher Betrachtung von sehr schweren Erkrankungsfällen gesprochen werden muss.
Wie wirksam ist Psychotherapie?
Linden berichtet über die Globalresponse zum Therapieende: Eine "Heilung" ist meistens nicht möglich durch Psychotherapie und kein realistisches Therapieziel, diese Erwartung führe eher zum Burnout von Psychotherapeut*innen. Jedoch sei eine Partialresponse in deutlich über 50% der Fälle am Behandlungsende möglich.
Forderung
Psychotherapie behandelt nicht nur Symptomatik, sondern Teilhabebeeinträchtigungen. Die ICD werde selbstverständlich überall genutzt in Deutschland, aber genau gleich gesetzlich verpflichtend ist die ICF, die aber kaum beachtet werde in der Breite.
Psychotherapeut*innen kümmern sich um Langzeiterkrankungen, die zu erheblichen Einschränkungen im Alltagsleben führen. Eine Remission ist eher die Ausnahme, eine Partialremission und chronische Behandlungsverläufe sind die Regel.
Psychotherapeut*innen sind entsprechend umfangreich mit sozialmedizinischen Problemen und Hilfestellungen beschäftigt.
Es gebe große Probleme bei der Ressourcen-Allocation von Psychotherapie in Deutschland: Wir müssen uns wirklich die "pathways to care" überlegen, sagt Michael Linden. Welche Patient*innen wir wann behandeln. Das sei nach wie vor eine unbeantwortbare Frage, sagt Michael Linden.
"Wir sollten die in Psychotherapie nehmen, bei denen es den größten Unterschied macht, dass durch die Psychotherapie etwas bewirkt. Man dürfe nicht missverstehen: Psychotherapie ist nicht abhängig davon, dass eine schwere psychische Erkrankung vorliegt, sondern abhängig von der Prognose, dass durch die Psychotherapie viel erreicht werden kann. Bei unklarer Prognose könnten andere professionelle Helfer*innen im Gesundheitssystem Hilfe leisten wie Sozialpädagog*innen, sagt Michael Linden.
Mangelnder Optimismus ist nicht gut für das Befinden von Psychotherapeut*innen. Aber wenn er einen Bericht an den Gutachter zum Antrag auf Psychotherapie erhalte, denke Michael Linden manchmal: "Wenn Sie wirklich die Ziele in der Psychotherapie erreichen, die Sie im Antrag beschreiben, sagen Sie mir Bescheid, dann publiziere ich das. Dann gibt es einen Nobelpreis."
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